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Neutrales Auftreten erwünscht Fall des Monats April 2020

Vorfall und Unterstützung durch die Gleichbehandlungsanwaltschaft

M ist 15 Jahre alt. Sie ist Schülerin an einer Polytechnischen Schule mit dem Fachbereich Gesundheit und Soziales. Für die Schüler_innen ihrer Schulstufe sind drei „berufspraktische Tage“ vorgesehen. M interessiert sich sehr für den Beruf der Zahntechnikerin. Daher besucht sie in Begleitung ihrer Mutter die Zahnarztpraxis von Herrn Dr. A, um sich zu erkundigen, ob sie dort die berufspraktischen Tage absolvieren könne. Sie überreicht einer Mitarbeiterin ihre Bewerbungsunterlagen, während ihre Mutter im Warteraum bleibt. Als die Mitarbeiterin Dr. A fragt, ob M die berufspraktischen Tage in seiner Ordination absolvieren könne, willigt er ein, woraufhin sie beginnt, das entsprechende Formular auszufüllen. Zu diesem Zeitpunkt ist Dr. A mit einem Patienten beschäftigt und steht mit dem Rücken zu M. Als Dr. A sich schließlich umdreht und sieht, dass M ein muslimisches Kopftuch trägt, teilt er ihr mit, dass sie das Kopftuch abnehmen müsse, wenn sie die berufspraktischen Tage in seiner Ordination absolvieren wolle. M ist durch diese Aussage sehr gekränkt und erklärt, dass sie das Kopftuch nicht abnehmen wolle. Sie verlässt den Praxisraum, um mit ihrer Mutter die Ordination so schnell wie möglich zu verlassen. Ihre Mutter fragt noch einmal nach dem Grund. Dr. A teilt ihr mit, dass er an Schülerinnen mit Kopftuch keine Schnupperpraktika vergebe.

M und ihre Mutter wenden sich an die Gleichbehandlungsanwaltschaft (GAW) zur Beratung und Unterstützung. Nach einem Beratungsgespräch richtet die Gleichbehandlungsanwältin ein Schreiben an Dr. A, in dem sie den Vorfall aus Sicht von M schildert und um eine Stellungnahme ersucht. Dr. A spricht in seiner Antwort von einem „Missverständnis“ und erklärt, dass die Schnuppertage aus Mangel an zeitlichen Ressourcen nicht ermöglicht werden konnten. Er bietet M an, zu einem anderen Termin Schnuppertage zu absolvieren. M hat zu diesem Zeitpunkt jedoch kein Interesse mehr. Sie fühlt sich als Muslimin benachteiligt, und möchte daher mit Unterstützung der GAW einen Antrag bei der Gleichbehandlungskommission (GBK) stellen, um überprüfen zu lassen, ob es sich bei dem Vorfall um einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgesetz (GlBG) handelt.

Hintergründe

Gleichbehandlung bei der Berufsausbildung

M ist Schülerin. Die „berufspraktischen Tage“ sind für ihre Schulstufe verpflichtend vorgesehen; es handelt sich demnach um einen Teil ihrer Ausbildung. Dr. A verweigert M aufgrund ihres muslimischen Kopftuchs, die berufspraktischen Tage in seiner Ordination zu absolvieren. Das GlBG verbietet Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder Weltanschauung, des Alters und der sexuellen Orientierung in der gesamten Arbeitswelt, ausdrücklich auch beim Zugang zur Berufsausbildung und zur beruflichen Weiterbildung (§§ 4 Z 1 und 18 Z 1 GlBG). Das Gesetz geht von einem sehr weiten Verständnis von Beratungs- und Ausbildungsangeboten aus. Der Begriff der Berufsausbildung stellt demnach nicht nur auf klassische Berufsausbildungen im Sinne von Lehrberufen ab, sondern schließt alle Ausbildungen mit ein, die einer konkreten Berufsausübung dienen. Zu den vom Diskriminierungsschutz erfassten Personengruppen zählen auch Volontär_innen und Praktikant_innen (Hopf/Mayr/Eichinger, Kommentar zum GlBG (2009) § 4 Rz 3). Zwar besteht grundsätzlich keine Verpflichtung zum Anbieten von Schnuppertagen, dennoch darf der Grund für eine Ablehnung nicht in einem nach dem GlBG verpönten Grund – beispielsweise der Religion oder der ethnischen Zugehörigkeit – liegen. 

Was ist ein „Neutralitätsgebot“?

Im Verfahren vor der GBK erklärte Dr. A überraschend, dass es in seiner Ordination ein „Neutralitätsgebot“ gebe. Die Vorsitzende der GBK forderte ihn auf, dies schriftlich zu belegen. Daraufhin legte Dr. A einen nicht datierten, nicht layoutierten und der GAW insgesamt nicht sehr offiziell (So fanden sich auf diesem Zettel weder Datum noch Briefkopf/Logo noch Unterschrift oder Stempel der Ordination.) erscheinenden Zettel vor, auf dem sich drei Punkte befanden: „Arbeitsanleitung Berufskleidung“, „Spindordnung“ und „Arbeitsanleitung persönliche Hygiene“ und erklärte, bei diesem Dokument handle es sich um das allen Mitarbeiter_innen bekannte, seit geltende „Neutralitätsgebot“ der Ordination. Unter dem Punkt „Berufskleidung“ findet sich folgender Passus: „Die Dienstbekleidung sowie das Erscheinungsbild hat nach dem Neutralitätsgebot neutral zu sein, ohne sichtbare Bekundung politischer, religiöser oder weltanschaulicher Symbole oder Werte.“

Der Begriff „Neutralitätsgebot“ ist spätestens seit den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen Achbita und Bougnaoui  zum geflügelten Wort geworden. Samira Achbita, eine belgische Rezeptionistin, war entlassen worden, nachdem sie ihrem Arbeitgeber angekündigt hatte, künftig in der Arbeitszeit das muslimische Kopftuch zu tragen. Der EuGH entschied zwar, dass dieses Verbot keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion ist, wenn das Verbot für alle Mitarbeiter_innen in gleichem Maß gilt und auch tatsächlich angewendet wird. Der EuGH äußert sich in der Entscheidung nicht eindeutig zur Frage, ob es sich bei dem Verbot um eine mittelbare Diskriminierung handelt. Eine solche könnte nämlich vorliegen, wenn ein „Neutralitätsgebot“ mittelbar eine bestimmte Gruppe von Personen – etwa muslimische Frauen – besonders trifft. Der EuGH überlässt es damit eigentlich de facto den nationalen Gerichten (oder wie in diesem Fall der GBK) einzelne Neutralitätsgebote auf Diskriminierungspotential zu überprüfen und liefert nur die oben genannten Auslegungshinweise (Für mehr Informationen: Die Antidiskriminierungsstelle Steiermark hat eine ausführliche Stellungnahme zur Entscheidung Achbita verfasst.)

Die GBK stellte einstimmig keine Diskriminierung fest. Dies war für die GAW aufgrund der zeitlichen Abfolge und der mangelnden Auseinandersetzung mit Zulässigkeitskriterien nicht nachvollziehbar: Die Information, dass es ein Neutralitätsgebot in der Ordination von Dr. A gebe, war sowohl M als auch der GAW neu – bis dahin hatte er stets von einem „bedauerlichen Missverständnis“ gesprochen, jedoch nie erwähnt, dass die Mitarbeiter_innen seiner Ordination „neutral“ auftreten müssten. Auf die Frage der GAW, wieso er dies nicht bereits früher erwähnt hatte, erklärte Herr Dr. A, dass er ja „nicht danach gefragt“ worden sei. Aus Sicht der GAW war das Vorbringen von Dr. A nicht glaubwürdig; es scheint so, als hätte es zum Zeitpunkt der Absage kein Neutralitätsgebot gegeben. Es wurden seitens der GBK auch keine weiteren Mitarbeiter_innen wurden zu dieser Frage einvernommen. Auch weitere Fragen zu etwaigen Zulässigkeitskriterien eines allfälligen Neutralitätsgebotes blieben ungeklärt: Welche Formvorschriften gibt es für Neutralitätsgebote? Ist es zulässig, dass diese primär auf die Kleidung abzielen? Wie kann überprüft werden, ob sich das Neutralitätsgebot tatsächlich auf alle Religionen und Weltanschauungen bezieht und nicht nur einzelne wie zB Musliminnen ausschließt? Ist etwa das Tragen von Taufketten erlaubt, finden Weihnachtsfeiern statt? Das wäre ein Hinweis darauf gewesen, ob die vermeintliche Neutralität nur auf bestimmte Religionen abzielt. Leider wurde all dies im Verfahren nicht besprochen. Aus Sicht der GAW wäre das Neutralitätsgebot aufgrund der vorhandenen Informationen im Hinblick auf die Beweislastverteilung als unzulässig zu beurteilen gewesen.

M ist enttäuscht. Für ist die Entscheidung der GBK nicht nachvollziehbar, zudem fiel es ihr schwer, der rechtlichen Diskussion rund um die Zulässigkeit von Neutralitätsgeboten zu folgen. Für Frau M bleibt der Eindruck bestehen, dass das Neutralitätsgebot auf Frauen mit Kopftuch abzielt.

Fazit

Klagerecht der GAW?

Die GBK hat eine Diskriminierung von M verneint. Die GAW hat dagegen kein Rechtsmittel, sie könnte allenfalls mit einer sehr aufwändigen Klage und mit Zustimmung der betroffenen Person vor Gericht feststellen lassen, dass es sich doch um eine Diskriminierung handelt. Dies ist allerdings noch nicht mit einem Schadenersatz für die Diskriminierungsopfer verbunden und müsste dann in einem zweiten Schritt ohne Unterstützung durch die GAW von der Betroffenen eingefordert werden. In diesem Fall wäre eine derartige Klage nicht hilfreich. Für den Zugang zum Recht wäre es hilfreicher, wenn die GAW ein Portfolio hätte, Klagen gleich vor Gericht bringen zu können. In vielen Fällen wäre auch ein verbandsklagerecht hilfreich, um offene Rechtsfragen klären zu können. Die europäischen Standards empfehlen, die Gleichbehandlungsstellen mit einer gerichtliche Mitwirkung auszustatten. Diese Instrumente könnten dafür genutzt werden, die Expertise der GAW in Gleichbehandlungsfragen effektiv gerichtlich einzusetzen. Die GAW könnte Musterklagen im Namen von Betroffenen führen und diesen damit das mitunter sehr hohe Prozessrisiko abnehmen.

Neutralitätsgebot: Kein Freibrief für „Kopftuchverbot“

Der EUGH hat wie oben bereits erwähnt, die wirklich wichtigen Fragen zum Thema Neutralität offen gelassen. Wie die nationalen belgischen Gerichte nach dem EuGH im Fall Achbita tatsächlich entscheiden werden, ist noch offen. Auch in Österreich gibt es noch keine Rechtsprechung, die auf die Entscheidungen Achbita und Bougnaoui Bezug nimmt. Aus Sicht der GAW wären folgende Klärungen wesentlich: Die Legitimität von Neutralitätsgeboten kann kein Deckmantel für ein generelles Kopftuchverbot am Arbeitsplatz sein. Es liegt an Unternehmen, etwaige Neutralitätsgebote rechtskonform auszugestalten, das heißt jedenfalls: allgemeingültig und transparent. Während es letztlich Aufgabe der nationalen Gerichte sein wird, die Rechtmäßigkeit einzelner „Neutralitätsgebote“ zu überprüfen, ist es Aufgabe der GAW, derartige Fälle auf das Risiko einer mittelbaren Diskriminierung zu dokumentieren und ihr Unterstützungsangebot weiterzuentwickeln.